Die Identität des jungen Mannes, der im Vordergrund des Gemäldes von Raffael sitzt, das als Selbstbildnis mit Freund oder Doppelporträt bekannt ist und im Musée du Louvre aufbewahrt wird, wo es 1792 in die Sammlung aufgenommen wurde, ist bis heute ein Geheimnis geblieben1. Die Szene zeigt eine laufende Handlung: Der sitzende oder kleinwüchsige Freund richtet seinen Blick auf Raffael, während dieser eine Hand auf seine Schulter und die andere auf seine Hüfte stützt.
Trotz der Schönheit desSelbstporträts mit Freund und der zahlreichen Studien, die ihm im Laufe der Zeit gewidmet wurden, ist es nach wie vor schwierig, den tieferen Sinn des Bildes zu verstehen und somit nicht nur die Figur auf der rechten Seite zu erkennen, sondern auch einen dritten hypothetischen Gesprächspartner, auf den der junge Mann mit dem Finger aus dem Rahmen weist. Die ersten gesicherten Informationen über das von Vasari nie erwähnte Werk stammen aus Frankreich und beruhen auf dem von Rascas de Bagarris erstellten Inventar, der das Doppelporträt zu Beginn des 17. Im Jahr 1625 bestätigte Cassiano del Pozzo das Vorhandensein des Bildes in der Gemäldegalerie von Fontainebleau, wobei er es diesmal Pontormo zuordnete3.
Im Inventar von Le Brun von 1683 wird es zum ersten Mal Raffael zugeschrieben. Bei dieser Gelegenheit wird es als Porträt des Künstlers mit einem Freund bezeichnet, wobei der Freund als Pontormo identifiziert wird4. Seit 1983 wird das Gemälde schließlich von fast allen Gelehrten als autographes Werk Raffaels akzeptiert und in den Katalog der CollectionFrançaises aufgenommen5.
Was die Identifizierung der beiden dargestellten Personen anbelangt, so wurde die Person im Hintergrund bereits im Inventar Le Brun6 als Raffael erkannt. In der Tat weisen seine Gesichtszüge viele Ähnlichkeiten mit den Selbstporträts in den Uffizien und den Vatikanischen Stanzen auf, auch wenn diese einige Jahre früher gemalt wurden, als dem Urbino noch kein Bart und Schnurrbart gewachsen war. Weitere Ähnlichkeiten wurden durch den Vergleich mit dem Porträt Raffaels von Giulio Bonasone (Bologna, Gabinetto dei Disegni e delle Stampe, Pinacoteca Nazionale) und dem Medaillon mit dem Porträt Raffaels an einer der Decken der Villa Lante in Rom hervorgehoben, die beide von demSelbstbildnis mitFreund7 stammen. François-Bernard Lépicié widerlegt in seinem 1752 erstellten Katalog der königlichen Sammlung zunächst die Identifizierung seines Freundes als Pontormo und führt die Bezeichnung “Waffenmeister” ein, wobei er sich bei der Identifizierung auf das Schwert konzentriert8.
Im Laufe der Zeit wurden auch die Namen Pinturicchio, Castiglione, Peruzzi, Polidoro und Giovan Francesco Penni für den Freund vorgeschlagen. John Shearman schlägt Giovanni Battista Branconio dell’Aquila vor, einen der Testamentsvollstrecker Raffaels, für den dieser den Palazzo in Borgo in Rom entworfen hatte9. Diese Hypothese, die vom Autor selbst bald wieder zurückgenommen wurde, berücksichtigte jedoch nicht den Altersunterschied zwischen Raffael und Branconio, der zehn Jahre älter war als er und daher nicht so jung erscheinen konnte.
Cecil Gould glaubte, den jungen Pietro Aretino wiederzuerkennen, der sich ab 151710 mit Agostino Chigi in Rom aufgehalten hatte. Trotz einer gewissen Ähnlichkeit mit dem Gesicht in Marcantonio Raimondis Porträt von Pietro Aretino (Pavia, Musei Civici) hat Enrico Parlato diese Hypothese jedoch widerlegt, insbesondere weil das Schwert nicht als Element der sozialen Anerkennung des damaligen Literaten verwendet werden konnte11. Norberto Gramaccini konzentrierte sich auf die Beziehung zwischen dem Meister - Raffael - und dem Schüler, ohne sich für die Identität des jungen Mannes zu interessieren, sondern vielmehr für die Verbindung zwischen den beiden. Dem Gelehrten zufolge konfrontiert das Gemälde den Betrachter mit der Szene der Übergabe des Staffelstabs vom Meister an den Schüler12. Paul Joannides und Tom Henry schlagen stattdessen vor, den Freund mit Giulio Romano zu identifizieren13. Ihre Theorie wurde auch von Enrico Parlato zurückgewiesen, demzufolge das Vorhandensein des Schwertes und im Allgemeinen die Kleidung nicht mit dem sozialen Status des Mannes übereinstimmen, der "damals einer der Lehrlinge Raffaels war"14. Parlato zufolge stimmen außerdem die leicht hakige Nase, die Form der Augen und die schmalen Lippen Giulios, die auch in Tizians Porträt von Giulio Romano (Mantua, Museo Civico di Palazzo Te) zu sehen sind, nicht mit den Gesichtszügen seines Freundes überein.
Hannah Baader hat, ohne Namen zu nennen, auf die vertrauliche und zugleich hierarchische Beziehung zwischen den beiden aufmerksam gemacht und argumentiert, dass der Maler einen gebildeten Menschen verkörpert, während sein Begleiter jemand ist, der durch Fragen Verständnis gewinnt. Die Geste des jungen Mannes, der sich zu Raffael umdreht, sei durch sein Erstaunen über den Betrachter vor ihnen hervorgerufen worden15. Joanna Woods-Marsden, die dasSelbstbildnis mit Freund im Kontext der Selbstporträts der Renaissance untersucht hat, geht davon aus, dass die unterschiedliche Höhe der beiden Figuren von ihrer sozialen Stellung abhängt. Unter Bezugnahme auf Herrscher oder Personen von hohem Rang, die oft sitzend dargestellt werden, und die vornehme Kleidung des Freundes im Vordergrund, geht Woods-Marsden davon aus, dass es sich bei ihm um einen Mann von hohem Rang handelt, der sich der Tat widmet, während sie den anderen als Denker identifiziert16. Nach Jurg Meyer zur Capellen verraten die Gesten der Protagonisten des Doppelporträts eine gewisse Intimität und Komplizenschaft zwischen den beiden. Der Finger des Freundes, der über den Bildraum hinausweist, ist seiner Meinung nach auf eine reale Person gerichtet, einen bestimmten Adressaten, der zwar unsichtbar, aber nachdrücklich in die Komposition einbezogen ist. Er stellt daher die Hypothese auf, dass das Gemälde auf einen Akt der Präsentation zwischen nahestehenden Personen anspielt17.
Es sei daran erinnert, dass dasSelbstbildnis mit Freund zwischen 1514 und 1520 in der Technik Öl auf Leinwand mit einem grauen Grund aus Bleiweiß, Kohleschwarz, Bleigelb und Ocker ausgeführt wurde, der mit einem Messer direkt auf den Malgrund aufgetragen wurde18. Wissenschaftliche Analysen (Röntgenaufnahmen) haben ergeben, dass die Komposition durch eine Zeichnung bestimmt wurde, mit der Raffael die Linien seines eigenen Gesichts nachgezeichnet hat, das tiefer als heute und fast auf gleicher Höhe mit der zweiten Figur liegt. In der vorbereitenden Zeichnung ist der Kopf der rechten Figur dem Maler leicht zugewandt und die Augen zeigen nach links. In der Endphase des Gemäldes hat der Urbinat sein Bild im Vergleich zur Zeichnung weiter nach oben verlagert und die Position seines Kinns und den Blick seines Freundes, der diesmal direkt zum Maler schaut, leicht verändert. Tom Henry und Paul Joannides haben auch spekuliert, dass Raffaels Kleid ursprünglich einen violetten Blauton und das des jungen Mannes einen grünen Ton gehabt haben könnte. Beide Farben scheinen heute fast vollständig verloren gegangen zu sein, zusammen mit den Nuancen, die der Kleidung und dem Gemälde eine größere Farbigkeit verliehen19.
Angesichts all dieser Studien und in dem Versuch, den Kontext zu rekonstruieren, in dem das Gemälde entstanden sein könnte, schien es angebracht, einen Teil meiner Forschungen über Lorenzo de’ Medici den Jüngeren, Neffe von Papst Leo X. Medici (1513-1521), zu veröffentlichen. Gerade in Lorenzo kann man vielleicht den zweiten Protagonisten des Gemäldes erkennen und folglich auch den Namen des dritten Gesprächspartners vorschlagen, höchstwahrscheinlich des Empfängers des Werks, der zu jener Zeit eine besonders enge Beziehung zum Neffen Lorenzos des Prächtigen hatte.
Die beiden Männer sind fast in voller Größe dargestellt und tragen dunkle Samtgewänder über weißen Leinenhemden, wie es damals in Venedig in Mode war. Beide tragen Schnurrbärte und einen gepflegten Bart. Auf der linken Seite trägt Raphael eine Samtkutte mit weitem Halsausschnitt, aus dem das gekräuselte Hemd herausragt. Auf der rechten Seite trägt sein Freund ein voluminöses schwarzes Sarion, das vorne offen ist. Der tiefe Ausschnitt der weiten Ärmel betont die Linie der Schultern, während der weiche Ausschnitt die Breite der Brust betont, die Kraft des männlichen Oberkörpers hervorhebt und den vorderen Teil des Halses freilegt. Die linke Hand ruht auf dem Schwert, einem unverzichtbaren Accessoire für einen bewaffneten Mann der damaligen Zeit.
Raffael und sein Freund erscheinen als zwei Herren, elegant, aber zurückhaltend gekleidet. Wie bereits erwähnt, erinnert ihre Haltung an ein intimes und schweigendes Gespräch, das sich aus Gesten und Blicken zusammensetzt und an den dritten Gesprächspartner gerichtet ist, dem das Doppelporträt gegeben worden sein könnte.
Meiner Hypothese zufolge erinnern die physiognomischen Züge des Freundes an Lorenzo de’ Medici den Jüngeren, wie er später von Raffael selbst 1517 in der Rechtfertigung Leos III. in der Stanza dell’Incendio di Borgo im Vatikan und später, 1518, im Porträt von Lorenzo de’ Medici, Herzog von Urbino, das sich heute in einer Privatsammlung befindet, dargestellt wird.
Lorenzo wurde 1492 in Florenz als Sohn von Alfonsina Orsini und Piero il Fatuo, dem ältesten Sohn von Lorenzo dem Prächtigen, nach dem das Kind benannt worden war, geboren. Nach dem Exil seiner Familie und der anschließenden Wiederherstellung im Jahr 1512 kehrte er als Erster der Stadt nach Florenz zurück20. Von nun an galt sein Interesse ausschließlich der Politik, um das Vermögen und die Macht seiner Familie in Florenz zu festigen. Innerhalb weniger Jahre machte der junge Mann, ermutigt durch seine Mutter, seinen Wunsch deutlich, mehr Ruhm und Ehre zu erlangen, einschließlich der Eroberung neuer Gebiete, in der ausdrücklichen Hoffnung, das unbestrittene Oberhaupt von Florenz zu werden, einer Stadt, die damals an Frankreich gebunden war21.
Den verfügbaren Quellen zufolge war Lorenzo von kleiner Statur, aber mit einem hübschen Gesicht; er hatte braunes Haar, einen weißen Teint und eine auffällige Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Er erfreute sich einer guten Gesundheit und hatte einen kräftigen und beweglichen Körper22. Im Porträt von Lorenzo de’ Medici, Herzog von Urbino, das möglicherweise als Geschenk für die Verlobte der Medici, Madeleine de la Tour, nach Frankreich geschickt wurde, erscheint die Farbe der Augen und des Haares heller als imSelbstporträt mit Freundin. Dies könnte jedoch darauf zurückzuführen sein, dass das Porträt von Lorenzo de’ Medici, Herzog von Urbino, in mehreren Teilen übermalt wurde, darunter auch das Gesicht, das unten und an den Seiten abgeschnitten wurde, wie eine Röntgenanalyse ergeben hat23. Glücklicherweise sind in den Uffizien noch Kopien des Porträts erhalten, die im 16. Jahrhundert von Alessandro Fei und Cristofano dell’Altissimo ausgeführt wurden, also mit ziemlicher Sicherheit vor der Übermalung. Die Leinwände könnten daher die Hypothese stützen, dass Lorenzos Augen und Haare in Wirklichkeit dunkler waren - genau wie imSelbstporträt mit Freund.
Vergleicht man die drei von Raffael gemalten Porträts der Medici, so scheinen sie einige gemeinsame Gesichtszüge aufzuweisen: die niedrige Stirn, die Breite des Zwischenraums zwischen den Augenbrauen und die Form der Augenbrauen selbst, die großen Augen, die ausgeprägte Nase, die vollen, sinnlichen Lippen, das lockige Haar, den sauber getrimmten Schnurrbart und Bart, den langen, kräftigen Hals. In der Rechtfertigung Leos III. in der Stanza dell’Incendio di Borgo im Vatikan ist Lorenzo oben rechts abgebildet. Er steht und ist elegant gekleidet. Eine Hand liegt auf der Brust, die andere stützt sich auf die Hüfte, genau wie auf dem Porträt von Lorenzo de’ Medici, Herzog von Urbino, das zusätzlich den unter dem Mantel verborgenen Stocco zeigt. Diese Pose, die in allen drei Gemälden so unverhohlen zum Ausdruck kommt, weist eindeutig auf eine starke Führungsrolle des jungen Mannes hin. Auf demSelbstbildnis mit Freund im Louvre war Lorenzo noch nicht zum Herzog von Urbino ernannt worden, und vielleicht ist seine Kleidung deshalb weniger erhaben als auf den beiden anderen Gemälden, obwohl das Schwert das konstante Attribut zu sein scheint, das seinen sozialen Status bestimmt.
Ein weiterer Vergleich kann mit dem Profil von Lorenzo auf der Bronzemedaille von Francesco da Sangallo angestellt werden, die im Museo Nazionale del Bargello in Florenz aufbewahrt wird. In dieser Darstellung ist sein Kopf in klassischer Pose nach rechts gedreht. Die ausgeprägte Nase, die großen Augen, die Frisur und der Bart scheinen jedoch denen des Doppelporträts zu ähneln.
In Anbetracht der Tatsache, dass Raffael und Lorenzo sich schon seit langem kannten, vor allem dank der Vermittlung von Leo X., stellt sich die Frage, wer der dritte Gesprächspartner sein könnte, an den sich der junge Medici mit großer Spontaneität zu wenden scheint.
War er vielleicht ein sehr wichtiger Mann, so wichtig, dass er nicht mit den beiden anderen, die von geringerem Rang waren, abgebildet werden konnte? In Anbetracht der Rolle, die Lorenzo spielt, kann man spekulieren, dass es sich bei der Person von höherer Abstammung um einen König handeln könnte, vielleicht um Franz I. von Frankreich, mit dem er kurz zuvor eine enge Verbindung eingegangen war. Die beiden jungen Männer hatten sich nämlich durch die Korrespondenz kennengelernt, die durch die Arbeit der Botschafter und Beamten der beiden Höfe nach der Krönung von François I. am 25. Januar 1515 in Reims entstanden war. Der damals einundzwanzigjährige Herrscher und der dreiundzwanzigjährige Lorenzo verstanden sich auf Anhieb so gut, dass letzterer sich angesichts des Wunsches des Monarchen, in naher Zukunft nach Italien zu ziehen, um das Herzogtum Mailand zurückzuerobern, bereit zeigte, Verhandlungen zur Unterstützung seines Feldzugs aufzunehmen und sich sogar seinen Wünschen zu fügen24. Aus diesem Grund ließ sich Lorenzo am 24. Mai 1515 vom Landvogt von Florenz zum Generalkapitän der florentinischen Truppen wählen25. Kurz darauf ernannte ihn der Papst zum Botschafter der Signoria beim König von Frankreich und zum obersten Hauptmann der päpstlichen Miliz, um seinen Onkel Giuliano de’ Medici, Herzog von Nemours, zu ersetzen, der in der Zwischenzeit erkrankt war.
Das Einvernehmen zwischen Franz I. und Lorenzo wurde zu einem Zeitpunkt gefestigt, als die päpstlichen und florentinischen Milizen der Medici, die in der Poebene lagerten, nicht einsatzbereit waren, so dass seine Majestät sich Mailand nähern und mit Unterstützung der venezianischen Armee bei Marignano gegen die Schweizer Söldner des Herzogs Maximilian Sforza kämpfen konnte. Der überwältigende Sieg des Königs, der am 14. September 1515 persönlich an der blutigen Schlacht teilgenommen hatte, die später als Schlacht der Giganten bekannt wurde, festigte die Beziehung zwischen den beiden jungen Potentaten, die sich von nun an regelmäßig in Mailand trafen26. Medici blieb mindestens bis zum 21. November, dem Tag seiner Abreise nach Rom, in der lombardischen Stadt, bevor er sich am 30. November nach Florenz begab, um dem feierlichen Einzug Leos X. in die Stadt beizuwohnen. Danach kehrte er nach Reggio zurück, wo er erneut mit dem König zusammentraf, und begab sich am 11. Dezember nach Bologna, um an dem berühmten Treffen zwischen dem Papst und Franziskus I.27 teilzunehmen. Nach den Beratungen in Bologna war Lorenzo dem Herrscher erneut nach Mailand gefolgt, einer Stadt, in der sie zumindest in den ersten Monaten des Jahres 1516 häufig gemeinsam aufgetreten waren.
Wo war Raffael während dieser Monate intensiver diplomatischer Aktivitäten? Und vor allem davor? Im November war er in Rom abwesend. Wie bereits von Francesco Paolo Di Teodoro und Vincenzo Farinella vermutet, ist es wahrscheinlich, dass er sich zunächst nach Florenz begab, um am triumphalen Einzug des Papstes teilzunehmen und die Frage der Fassade der Basilika San Lorenzo zu klären, und dann nach Bologna, um Leo X. und seinem Hofstaat zu folgen28. Sollte dies der Fall sein, so ist anzunehmen, dass Raffael aufgrund seiner hohen Ämter am Heiligen Stuhl und seines Ansehens an einigen italienischen Höfen, darunter auch an seinem eigenen in Urbino, an einem privaten Treffen mit dem König in Bologna teilgenommen haben könnte, vielleicht um eine diplomatische Mission im Namen der Medici zu erfüllen. Die Hypothese, dass die drei die Gelegenheit gehabt haben könnten, die Frage von Urbino zu besprechen, in der der Papst seine Absicht geäußert hatte, den Herzog zu entmachten und Lorenzo mit Hilfe Frankreichs an seine Stelle zu setzen, ist vielleicht auch nicht ganz von der Hand zu weisen.
So könnte Raffael imSelbstbildnis mit Freund ein Vorbild an politischer Klugheit dargestellt haben, das dem König zusammen mit den Medici begegnet, um ihm seine Bereitschaft zur vollen Unterstützung des jungen Mannes zu zeigen. Sowohl die Geste, mit der er seinen Freund umarmt und beruhigt, als auch der feste Blick, der dem dritten Gesprächspartner zugewandt ist, scheinen Entschlossenheit und eine Überzeugungskraft zum Ausdruck zu bringen, die einer solchen Rolle angemessen sind. Raffael, der es verstand, die Politik seiner Zeit in seinen Gemälden darzustellen, war im Übrigen der offizielle Künstler von Leo X., dem er die prestigeträchtigsten Aufträge seines Pontifikats übertragen hatte. Der Urbinat arbeitete nämlich nicht nur auf der Baustelle des Petersdoms, sondern auch in der Stanza dell’Incendio di Borgo, der einzigen in der päpstlichen Wohnung, für die er einen auf seine Politik anspielenden Bilderzyklus entworfen hatte.
Es ist auch denkbar, dass die Beratungen in Bologna Raffael die Gelegenheit boten, dem Monarchen, der die zeitgenössische Malerei sehr schätzte, seine Qualitäten zu zeigen. An den Feierlichkeiten, die parallel zu den diplomatischen Gesprächen stattfanden, nahmen übrigens einige der bedeutendsten Musiker und Künstler der damaligen Zeit teil, darunter Leonardo da Vinci. Dank der Vermittlung von Florimond Robertet, dem persönlichen Sekretär und Schatzmeister von Franz I., mit dem Lorenzo stets in engem Kontakt stand, hätte Raffael außerdem die Möglichkeit gehabt, sich dem französischen Herrscher als Berater in antiquarischen Fragen anzubieten. Bei den Treffen in Bologna hatte der König nämlich sein Interesse an antiken Statuen bekundet und den Papst offiziell um die berühmte Skulptur des Laokoon gebeten, die einige Jahre zuvor in Rom gefunden worden war29. Raphael könnte dann vor allem wegen der neuen Aufgabe involviert gewesen sein, die ihm Ende August 1515 von Leo X. übertragen wurde, der ihn zum Präfekten der Ausgrabungen in Rom ernannt hatte, mit dem Recht, das gesamte ausgegrabene Material mit antiken Inschriften als Erster zu sehen.
Dies würde die informelle Kleidung der beiden Männer erklären, die derjenigen zu entsprechen scheint, die im Buch des Höflings von Baldassarre Castiglione vorgeschlagen wurde, der unter anderem im Herbst 1515 einen langen Prolog zu dem Text geschrieben hatte, in dem er Franz I. lobte und erklärte, dass es ein schwerer Fehler wäre, wenn die Florentiner ihm nicht gehorchten30. Den Vorschriften Castigliones zufolge sollten die Höflinge bequeme schwarze oder dunkle Kleidung tragen, exzentrische oder modische Kleidung vermeiden und stattdessen einen italienischen Stil pflegen, der ihrer inneren Identität entsprach31. Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass Castiglione als Diplomat an den Bologneser Beratungen teilgenommen hatte, um vor dem König für die Sache seines Herrn Francesco Maria della Rovere, Herzog von Urbino, einzutreten, der vom Papst mit der Exkommunikation und der Konfiszierung seines Staates und seiner Güter bedroht wurde.
Außerdem hatte Castiglione Raffael, mit dem ihn eine brüderliche Freundschaft verband, als einen der Protagonisten in das Manuskript des Buches aufgenommen, das von einem Amanuensis um 1514-1515 unter seiner engen Aufsicht geschrieben wurde32. In diesem Fall kann man sich vorstellen, dass Raffael selbst die Leinwand, auf der dasSelbstbildnis mit Freund gemalt werden sollte, mit nach Florenz oder Bologna nahm und es ganz oder teilweise vor Ort malte oder es dem jungen Medici nach seiner Fertigstellung schenkte. Wir können uns auch vorstellen, dass, selbst wenn Raffael nicht in der Lage gewesen wäre, den König zusammen mit Lorenzo zu treffen, seine Präsentation Franz I. über das Porträt erreicht hätte, das auf jeden Fall bei einer dieser beiden Gelegenheiten in die königlichen Sammlungen in Frankreich gelangt sein könnte, die später im Louvre untergebracht wurden.
Dieser Beitrag wurde ursprünglich in Nr. 16 unserer Zeitschrift Finestre sull’Arte auf Papierveröffentlicht . Klicken Sie hier, um ihn zu abonnieren.
1 Angesichts der umfangreichen Bibliographie über Raffael und die Geschichte desSelbstporträts mit Freund und seiner Zuschreibungen wird hier eine Zusammenfassung gegeben: L. Dussler, Raphael. A Critical Catalogue of his Pictures, Wall-Paintings and Tapestries, London - New York 1971, S. 47; S. Béguin, Raphaël et un ami, in Raphaël dans les Collections Françaises, Ausstellungskatalog (Paris, Galeries Nationales du Grand Palais, 15. November 1983 - 13. Februar 1984), Paris 1983, pp. 101-104; J. Shearman, Doppio ritratto di Raffaello , in Raffaello architetto, Ausstellungskatalog (Rom, Palazzo dei Conservatori, 29. Februar - 15. Mai 1984), herausgegeben von C. L. Frommel, S. Ray, M. Tafuri, Mailand 1984, S. 107; J. Cox-Rearick, The collection of Francis I: Royal Treasures, Antwerpen 1995, S. 198, 217-222 und S. 406; J. Meyer zur Capellen, Raphael. Ein kritischer Katalog seiner Gemälde, Bd. 3: Die römischen Porträts, ca. 1508-1520, Landshut 2008, S. 23-24 und S. 136-143; T. Henry, P. Joannides, Self-Portrait with Giulio Romano, in Late Raphael, Ausstellungskatalog (Madrid, Museo Nacional del Prado, 12. Juni - 16. September 2012 und Paris, Musée du Louvre, 8. Oktober 2012 - 14. Januar 2013), herausgegeben von T. Henry, P. Joannides, Madrid 2012, S. 296-300; E. Parlato, Autoritratto con amico, in Raffaello 1520-1483, Ausstellungskatalog (Rom, Scuderie del Quirinale, 5. März - 2. Juni 2020), herausgegeben von M. Faietti, M. Lanfranconi, F. P. Di Teodoro, V. Farinella, Rom 2020, S. 66-67; E. Parlato, Mit wem redet Raphael? Attorno al Doppio Ritratto del Louvre, in: Amica veritas. Studi di Storia dell’arte in onore di Claudio Strinati, herausgegeben von A. Vannugli, Rom 2020, S. 343-352 und T. Henry, Self Portrait with Giulio Romano, in Raphael, exhibition catalogue (London The National Gallery, 9 April - 31 July 2022), herausgegeben von D. Ekserdjjan, T. Henry, London 2022, S. 88-89.
2 Siehe S. de Ricci, Description raisonnee des peintures du Louvre. I. Ecoles étrangères: Italie et Espagne, Paris 1913, S. XI. Das Manuskript, das angeblich das Inventar enthält, stammt von Nicolas-Claude Fabri de Peiresc (Paris, Bibliotheque Nationale, ms. latin 8957, fol. 128) und wurde erstmals von S. de Ricci in Revue archeologique, 35, 1899, S. 342 veröffentlicht. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Zeichnungen von antiken Monumenten und Inschriften aus Südfrankreich. Leider konnte ich das Inventar in diesem Manuskript nicht finden.
3 C. dal Pozzo, Legatione del signore Cardinal Barberino in Frankreich, in E. Müntz, Le château de Fontainebleau en 1625, d’après le diarium du commandeur Cassiano dal Pozzo, Paris 1885, S. 269.
4 In A. Brejon de Lavergnée, L’Inventaire Le Brun de 1683: la collection des tableaux de Louis XIV, Paris 1987, S. 94.
5 Béguin, Raphaël ..., a.a.O., S. 101-104.
6 Brejon de Lavergnée, L’Inventaire..., a.a.O., S. 94.
7 Béguin, Raphaël ..., a.a.O., S. 102.
8 F.B. Lépicié, Catalogue raisonné des tableaux du Roy, avec un abrégé de la vie des peintres, fait par ordre de Sa Majesté, vol. I, Paris 1752, S. 96-97.
9 Shearman, Doppelporträt . .., a.a.O., S. 107.
10 C. Gould, Raphael’s Double Portrait in the Louvre: An Identification for the Second Figure, in Artibus et Historiae, 10, 1984, S. 57-60.
11 Parlato, Con chi parla ..., a.a.O., S. 347.
12 N. Gramaccini, Raffael und sein Schüler. Eine gemalte Kunsttheorie, in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Zürich, 2, 1995, S. 45-55.
13 P. Joannides, Raphael and his circle, in Paragone, 51, 30 (601), 2000, S. 3-42 und Henry, Self Portrait..., cit., in Raphael... , cit., S. 88-89.
14 Parlato, Mit wem er spricht ..., a.a.O., S. 347.
15 H. Baader, Sehen, Täuschen und Erkennen. Raffaels Selbstbildnis im Louvre, in: Diletto e Maraviglia. Ausdruck und Wirkung in der Kunst von der Renaissance bis zum Barock. Festschrift für Rudolf Preimesberger, Emsdetten 1998, S. 41-59.
16 J. Woods-Marsden, Renaissance Self-Portraiture. The Visual Construction and the Social Status of the Artist, New Haven - London 1998, S. 124-128.
17 Meyer zur Capellen, Raphael..., a.a.O., S. 142.
18 Zum technischen Aspekt siehe B. Mottin, E. Ravaud, G. Bastian, M. Eveno, Raphael and his Entourage in Rome: Laboratory Study of the Works in the Musée du Louvre, in Late Raphael... , a.a.O., S. 362.
19 Henry - Joannides, Selbstbildnis mit . .., a.a.O., in Später Raffael... , a.a.O., S. 296.
20 G. Benzoni, Lorenzo de’ Medici, Herzog von Urbino, in Encyclopaedia Machiavelliana, 2014 (Online-Ausgabe).
21 F. Vettori, Scritti storici e politici, Bari 1972, S. 152-153 und S. 161.
22 Idem, S. 272.
23 K. Oberhuber, Raffael und das Staatsporträt - II: das Porträt von Lorenzo de’ Medici, in: The Burlington Magazine, 821, 1971, S. 439-440.
24 A. Giorgetti, Lorenzo de’ Medici capitano generale della repubblica fiorentina, in Archivio storico italiano, 11, 1883, S. 212-213.
25 Idem, S. 210-211.
26 M. Sanuto, I Diarii di Marino Sanudo (1496-1533), Bd. 21, Venedig 1887, S. 140, 273, 284, 297, 377.
27 Zum Treffen in Bologna siehe N. Rubello, Il re, il papa, la città. Francesco I. und Leo X. in Bologna im Dezember 1515 (Dissertation, Universität Ferrara), Ferrara 2012.
28 Zu Raffaels Abwesenheit in Rom und der Hypothese, er sei nach Florenz und Bologna gegangen, siehe G. Amati, Sopra due case possedute da Raffaele da Urbino, in Il Buonarroti, vol. III, Rom 1866, S. 58-59 und F. P. Di Teodoro und V. Farinella, Santi Raffaello, in Dizionario Biografico degli Italiani, 2017 (Online-Ausgabe).
29 Zum Ersuchen von Franz I. an den Pontifex siehe Berichte der venezianischen Gesandten an den Senat, herausgegeben von Eugenio Alberi, Serie II, Bd. III, Florenz 1846, S. 116.
30 P. Serassi, Lettere del conte Baldessar Castiglione, vol. I, Padua 1769, S. 182.
31 B. Castiglione, Il libro del Cortegiano, Turin 2017, S. 158-160.
32 O. Zorzi Pugliese, The Early Extant Manuscripts of Baldassar Castiglione’s “Il libro del cortegiano” (Transkriptionen), 2012 (digitale Ausgabe), S. 225, 306, 377, 546, 560-561.
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