Für diejenigen, die sie nicht kennen, ist Kassel eine deutsche Stadt im Herzen Hessens, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer zu erreichen ist und in der kaum etwas Interessantes passiert. Auch touristische Einrichtungen gibt es kaum: Hotels, Bäder, Restaurants lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Alle fünf Jahre jedoch wird Kassel für einhundert Tage zum pulsierenden Herz der internationalen Gegenwartskunst. Die Documenta, die in diesem Jahr zum 15. Mal stattfindet, ist sicherlich neben der Biennale von Venedig eine der wichtigsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in Europa.
Die deutsche Ausstellung wurde 1955 von Arnold Bode (1900-1977), Professor für Malerei an der Kasseler Akademie, ins Leben gerufen. Die Entscheidung, in dieser Stadt auszustellen, war nicht zufällig: Auf dem Friedrichplatz befindet sich das Fridericianum, ein 1779 gegründetes Gebäude mit starken politischen und kulturellen Bezügen. Das Gebäude war nicht nur eines der ersten öffentlichen Museen der Welt, sondern auch der Ständepalast, in dem sich von 1810 bis 1813 die deutsche Parlamentskammer befand. Ziel der Ausstellung von 1955 war nicht nur ein Überblick, eine “Dokumentation” der deutschen Nachkriegskunst, sondern vor allem die “Reinigung” vom Bild des nationalsozialistischen und antisemitischen Deutschlands, das sich im Bereich der Kunst in der Ausstellung “Entartete Kunst” von 1937 manifestiert hatte. Bodes Projekt wurde sofort gut aufgenommen. Im Laufe der Jahre wuchs die Ausstellung beträchtlich, und anders als bei der stärker institutionalisierten Biennale von Venedig stand der politische, wirtschaftliche und soziale Aspekt stets im Mittelpunkt der künstlerischen Debatte.
Bei der aktuellen documenta ist das nicht anders: Die politische Debatte, in der sie schon vor ihrer Eröffnung eine Hauptrolle spielt, ist in den deutschen Nachrichten präsenter als die ausgestellten Werke. Die Besonderheit und Kontroverse, die diese documenta15 auslösen würde, zeichnete sich bereits im Sommer 2019 ab. Das damalige Kunstdirektorium, dem Frances Morris, Direktorin der Tate in London, und Charles Esche, Direktor des Van Abbemuseums in Eindhoven, angehörten, sprach sich für das indonesische Kunstkollektiv Ruangrupa aus. Von Anfang an schien Ruangrupa nicht sonderlich an der Logik des zeitgenössischen Kunstmarktes interessiert zu sein: Als das Kunstprojekt und die Namen der beteiligten Künstler öffentlich gemacht wurden, wurde eine klare kuratorische Linie immer deutlicher. Die Abwesenheit von Galerien und “Bonzen” der zeitgenössischen Kunst und damit das Fehlen jeglicher finanzieller Spekulation für ein Projekt, das mehr auf die Gemeinschaft und die solidarische Aufrechterhaltung des Kunst-Ökosystems ausgerichtet ist, nach den Richtlinien einer echten Sharing Economy. Von Anfang an hat Ruangrupa die nachhaltige Bewirtschaftung und das Teilen von Ressourcen zu einem zentralen Aspekt der Ausstellung gemacht, ohne den Anspruch zu erheben, den Kapitalismus abzuschaffen, sondern mit dem Wunsch, mit kleinen Akten der Solidarität zu experimentieren. Tatsächlich sieht diese documenta die (künstlerische, aber auch wirtschaftliche) Beteiligung von Kollektiven und Aktivisten aus Regionen vor, die in den Kulturwissenschaften als “Globaler Süden” definiert werden und die bisher im westlichen Kunstsystem weniger vertreten sind. Die unmittelbare Folge der Intervention von vierundfünfzig Kollektiven für fast eintausendfünfhundert Künstler aus dem Globalen Süden ist eine sorgfältige Reflexion über die Fragen des Postkolonialismus, zusammen mit der Dekonstruktion dessen, was Edward Said “Orientalismus” nannte. Die Entscheidung, das Kollektiv aus Jakarta für die künstlerische Leitung dieser Veranstaltung zu nominieren, ist als Premiere in der Geschichte der documenta zu betrachten. Andererseits ist die Wahl von Ruangrupa, dessen “subversive” Absichten in Bezug auf das uns Westlern vertraute Kuratorentum, unverständlich. Es ist anzunehmen, dass diese Wahl in gewisser Weise die Interessen und die Debatte mehrerer Museen in Europa widerspiegelt, die sich mit der Rückgabe von in der Kolonialzeit geraubten Stücken befassen und darüber nachdenken, wie die Museumssammlungen der Zukunft eine “andere Geschichte” erzählen können und sollten.
Dass die documenta15 zum Schauplatz einer der wichtigsten kulturpolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland seit der Jahrtausendwende werden würde, die in den letzten Tagen von einigen extremistischen Flügeln mit der Forderung nach Schließung der Veranstaltung beantwortet wurde, hätten sich wohl weder die documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann noch die Kultur- und Medienministerin der Regierung Scholz, Claudia Roth, noch das Kollektiv Ruangrupa selbst vorstellen können. Das Thema der Querelle? Der Vorwurf des Antisemitismus gegen die künstlerische Leitung und einige zur Ausstellung eingeladene Kollektive. In einem Land, das immer noch Schwierigkeiten hat, seine Vergangenheit zu bewältigen, das eher versucht hat, sie zu vergessen, als sich ihr kritisch zu stellen, ist der Antisemitismus ein Thema, das eine Büchse der Pandora wieder öffnet, die jahrzehntelang wenn nicht geschlossen, so doch zumindest halb verschlossen gehalten wurde. In den Monaten vor der Kasseler Veranstaltung gab es eine Reihe von unbegründeten und zutiefst zynischen Angriffen auf die Ausstellung, ihre Kuratoren und viele ihrer Künstler. Die Anschuldigungen wurden zunächst von Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, erhoben, der Ruangrupa in seinem Forum vorwarf, Kollektive, die der BDS-Bewegung (Boykott, Divestment und Sanktionen) nahe stehen, insbesondere The Question of Funding, einzuladen und israelische Künstler von der Teilnahme an der Kasseler Kunstausstellung auszuschließen.
Die Behauptungen fielen bei einigen rechtsgerichteten deutschen Parteien wie der Antideutschen und der AfD sofort auf fruchtbaren Boden und wurden in der deutschen Presse unkritisch wiedergegeben. In einem Artikel vom 17. Januar 2022 berichtete der WDR: “Ein Bündnis wirft dem indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa vor, Organisationen, die den kulturellen Boykott Israels unterstützen oder antisemitisch sind, in die kommende Dokumentation aufzunehmen. Der Vorwurf richtet sich unter anderem gegen eine palästinensische Gruppe, die angeblich den Boykott Israels im kulturellen Leben unterstützt. In einem Artikel vom 1. Mai fragte die Zeitung Welt, warum der Vorwurf, antisemitische oder antiisraelische Positionen zu vertreten, nicht durch Fakten widerlegt werde und beklagte im Gegenteil, wie die Kritik mit einer pauschalen Antwort gekontert werde, wonach die documenta ”pauschalen Aussagen über Menschen muslimischer oder anderer Herkunft“ keine ”Plattform“ geben wolle. Bis hin zu den Schlagzeilen der letzten Tage, in denen dieselbe Zeitung den Antisemitismus als dieser Ausstellung inhärent anprangert: ”Antisemitismus als System - das documenta Protokoll". Die Folgen dieser anfänglichen Hetzkampagne führten zu echten Aggressionen gegen die beteiligten Kollektive: Einige Wochen vor der Eröffnung der Ausstellung wurde der Ausstellungsraum des palästinensischen Kollektivs The Question of Funding a documenta15 vandalisiert. Die Codes “187” (in den Vereinigten Staaten als Todesdrohung verwendet) und “Peralta” (der Name der spanischen faschistischen Politikerin Isabelle Peralta) prangten an den Wänden der Ausstellung. Auf einem Aufkleber, der für eine von Unbekannten für den 15. Mai organisierte Demonstration in Berlin gegen Antisemitismus verwendet wurde, die aber glücklicherweise nicht stattfand, konnte man den Satz “Wir suchen den Antisemiten des Jahres! Und schickt ihn mit seinesgleichen in die Wüste” (“Wir suchen den Antisemiten des Jahres! Wir suchen den Antisemiten des Jahres! Und schicken ihn mit seinen Gleichen in die Wüste”), flankiert von einigen Symbolen, darunter die von Amnesty International und BDS, vor dem Hintergrund eines Hundehinterns.
Dies sind groteske Episoden, die, wie die in Berlin lebende südafrikanische Künstlerin Candice Breitz treffend dargelegt hat, als anhaltende und äußerst aggressive Versuche des rechten Flügels verstanden werden müssen, den kulturellen und öffentlichen Diskurs in Deutschland zu entpluralisieren; progressive Kunst und Kultur zu finanzieren; die Stimmen von Muslimen, Palästinensern, Nichtwestlern, farbigen Menschen und linken Juden zum Schweigen zu bringen und dekolonialen Aktivismus in einem Land zu delegitimieren, das gerade erst begonnen hat, sich mit seiner gewalttätigen kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen und diese anzuerkennen. Eine Nation, die kaum das Wort “Namibia” buchstabieren kann und es immer noch vorzieht, so zu tun, als sei sie für einen einzigen historischen Völkermord verantwortlich gewesen.
Sobald die Ausstellung eröffnet wurde, wurden Vorwürfe des Antisemitismus laut. Das Banner von Taring Padis Installation People’s Justice, das vor dem Eingang der documenta-Halle angebracht ist, weist eine dezidiert antisemitische Symbolik auf. Das Werk wurde 2002 in Ýogykarta von Taring Padi realisiert, einem Kollektiv von Künstlern und Aktivisten aus der indonesischen Stadt, das 1998 nach den (blutig niedergeschlagenen) Massenaufständen infolge der Wirtschaftskrise gegründet wurde: People’s of Justice, das erstmals im Westen ausgestellt wird, spielt vor dem Hintergrund der Studentenproteste von 1998, die zum Ende des diktatorischen Suharto-Regimes (1965-1998) führten. Das Hauptthema des Werks ist der Gegensatz zwischen dem kapitalistisch-militärischen Machtkomplex und dem unterdrückten Volk. Über dem Schauplatz der Unterdrückung befindet sich eine Art Fegefeuer, in dem die Unterdrückten (das Volk) über die Unterdrücker (das Suharto-Regime, seine Kollaborateure, die Polizei und seine westlichen Unterstützer) richten. Mehrere zeitgenössische Studien (die erste von Butwell 1979) haben gezeigt, dass Suhartos stark antikommunistisches und repressives diktatorisches Regime bewusst von zahlreichen westlichen Regierungen und Institutionen akzeptiert wurde, darunter die Vereinigten Staaten, die CIA, der Internationale Währungsfonds, der Bundesnachrichtendienst und der Mossad. Um letztere darzustellen, bediente sich Taring Padi einer im indonesischen politischen Kontext wohlbekannten Symbolik: Soldaten und Soldaten, symbolisiert durch Schweine, Hunde und Ratten, als Kritik am kapitalistischen System und an der militärischen Gewalt. Zwei dieser Figuren wurden beschuldigt, einen beleidigenden Inhalt gegenüber der jüdischen Gemeinschaft zu haben: Zu den Figuren, die die Unterdrückung darstellen, gehören ein orthodoxer Jude mit Vampirzähnen und SS-Runen und ein Soldat mit einem Schweinegesicht, der einen Helm mit der Aufschrift “Mossad” trägt.
Bereits am Montag nach dem Eröffnungswochenende wurde das Banner unkenntlich gemacht und nach einigen Tagen wurde die Installation auf dem Friedrichplatz vollständig entfernt. Offizielle Entschuldigungs-Pressemitteilungen von Ruangrupa, Taring Padi und der Generaldirektorin der documenta, Sabine Schormann, halfen wenig. Aus den Vorwürfen wurde bald eine regelrechte Steinigung, die von verschiedenen Seiten betrieben wurde: von Meron Mendel, der Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank, von Claudia Roth, vom hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein und von verschiedenen Parteien wie AfD und CDU/CSU, die am 7. Juli einen Antrag zur “angemessenen Aufarbeitung des Antisemitismus-Skandals auf der Documenta” einbrachten. Unbeachtet bleiben auch die Worte fast der gesamten deutschen Kunstszene, insbesondere der Berliner Kunstszene, die von Anfang an ihre Nähe zur künstlerischen Leitung von Kassel erklärt hat, im Namen einer gründlicheren Lektüre und Kontextualisierung der Arbeiten in der Hoffnung, dass ein Fehler nicht die Arbeit von Jahren und die Werke der über 1.500 ausstellenden Künstler auslöscht. Die Generaldirektorin Sabine Schonmann, der Oberbürgermeister von Kassel, Christian Geselle (SPD), sowie das Ruangrupa-Kollektiv selbst wurden nicht nur um mehr Kontrolle über die ausgestellten Werke gebeten, sondern auch um die Schließung der Veranstaltung selbst. Sicherlich unerwartet war die Reaktion des Künstlers Hito Steyerl, der beschloss, seine im Ottoneum ausgestellte Videoinstallation " Animal Spirits" zurückzuziehen. Die Gründe dafür liegen in der wiederholten Verweigerung eines nachhaltigen und strukturell verankerten Dialogs rund um die Ausstellung sowie in der Weigerung der Kunstleitung, eine Vermittlung zu akzeptieren.
Vorhersehbar, aber nicht wünschenswert, war der wenige Tage später erfolgte Rücktritt von Sabine Schornmann, die der einzige Sündenbock in der ganzen Affäre war. Schornmann hat nicht nur Ruangrupa stets verteidigt, sondern auch die Vorwürfe des Kollektivs wegen Untätigkeit und mangelndem Dialog konsequent zurückgewiesen. Die Reaktionen und Erwiderungen sowohl der Ankläger als auch der des Antisemitismus Beschuldigten laufen jedoch Gefahr, in eine Vereinfachung zu verfallen: sowohl in Taring Padis Relativismus, indem er behauptet, er habe sich nur auf den historischen Kontext Indonesiens bezogen, ohne an die Folgen zu denken, die solche Bilder im Westen haben würden, als auch in der monokausalen Verbindung, die von den Kritikern hergestellt wird, d.h. muslimisches Land gleich Antisemitismus. Sicherlich stimmt es, dass das Werk in den zwanzig Jahren seines Bestehens auch in anderen Ländern (Indonesien, China, Australien) ausgestellt wurde, ohne dass dies kommentiert worden wäre. Den Antisemitismus jedoch zu einem Problem der Wahrnehmung zu machen, insbesondere der subjektiven Rezeption in Deutschland, bedeutet, das Werk und seine Zusammenhänge nicht anzuerkennen. Dies gilt umso mehr, wenn dies durch ein Kollektiv aus Indonesien geschieht, einem Land, das weder die jüdische Religion noch Israel anerkennt. Es handelt sich um offenkundig antijüdische Bildmodelle (der Vampirjude und der Schweinejude), die mindestens seit dem späten 19. Jahrhundert etabliert sind. People’s Justice ist sicherlich ein Produkt des indonesischen Unterdrückungskontextes vor zwanzig Jahren, aber der Kurator hätte dem deutschen Ausstellungskontext mehr Aufmerksamkeit schenken sollen, vor allem nach den ersten Antisemitismusvorwürfen. Ruangrupa hätte sich früher oder später mit einem Land auseinandersetzen müssen, in dem die Einzigartigkeit der Shoah und die Erinnerungskonkurrenz zwischen Holocaust und Kolonialismus keine Debatte zulassen, die über den bloßen Vorwurf des Antisemitismus hinausgeht. Enzo Traverso hat sich in einem kürzlich erschienenen Artikel in der Zeitschrift Jacobin ausführlich mit dem Historikerstreit 2.0 auseinandergesetzt, der aus den Ereignissen in Kassel hervorgegangen ist. Der Wissenschaftler verdeutlicht, wie wichtig es ist, die während des Kolonialismus begangenen Völkermorde zu überdenken und sich ihrer bewusst zu werden, auch für die Deutschen. Denn das Gefühl, das sich aus dieser scheinbar deutschen Querelle ergibt, die vorerst kein Ende finden will, ist gerade die anhaltende Spannung zwischen Antisemitismus und Postkolonialismus in einem Kontext, der zwischen den Perspektiven des Globalen Südens und der deutschen historischen Verantwortung steht.
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