Documenta 14: Wenn eine internationale Ausstellung zu einem Raum für Kritik und politische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Welt wird


Rückblick auf die documenta-Ausstellung 2017 (documenta14) in Kassel, Deutschland, von Francesca Della Ventura von der Universität zu Köln.

2017 wird Kunstliebhabern als das Jahr der “großen internationalen Ausstellungen” in Erinnerung bleiben. Fast zeitgleich öffneten drei Großereignisse ihre Pforten für Künstler, Kuratoren und Besucher im Allgemeinen: die Kunstbiennale in Venedig (13.05.2017-26.11.2017), die Skulptur Projekte in Münster (10.06.2017-01.10.2017) und das alle fünf Jahre stattfindende zeitgenössische Kunstereignis der Documenta (Athen 08.08.2017-16.07.2017 /Kassel (10.06.2017-17.09.2017).

Anders als die von Christine Macel kuratierte"Viva Arte Viva", die den Zustand des zeitgenössischen Künstlers und die künstlerische Erfahrung selbst in den Mittelpunkt der Veranstaltung stellt, ist die Documenta14 ein Raum für die Konstruktion kritischen Denkens und die Anfechtung der aktuellen Welt. Zum ersten Mal seit 1955 - dem Jahr der ersten Ausgabe - hat der künstlerische Leiter der d14, Adam Szymczyk, beschlossen, die Ausstellung auf zwei verschiedene Städte aufzuteilen: Kassel und Athen. Die Entscheidung, der 14. Ausgabe 2013 den Titel"Von Athen lernen" zu geben und die deutsche und die griechische Stadt auf eine Stufe zu stellen, hatte von Anfang an eine starke politische Konnotation. Im Jahr 2013 befand sich die griechische Regierung nämlich in einer schweren Finanzkrise, auf die Deutschland sehr hart reagierte, indem es der griechischen Bevölkerung strenge Maßnahmen und wirtschaftliche Opfer auferlegte, um die Staatsschulden zu sanieren. In diesem schwierigen politischen und wirtschaftlichen Kontext wollte die Documenta eine Kritik und einen Protest gegen den deutschen Wirtschaftsimperialismus gegenüber dem Land, das seit jeher die Wiege der europäischen Kultur ist, darstellen. Die politische und soziale Krise zwischen Nord- und Südeuropa war auch ein Spiegelbild der globalen Krise, auf die die zur Teilnahme an dieser Ausgabe eingeladenen Künstler reflektierten: Emigration, kulturelle Zensurmaßnahmen und Finanzkrisen waren die Hauptthemen dieser Documenta.

Noch bis zum 17. September 2017 kann die documenta14 in Kassel besucht werden, der kleinen deutschen Stadt in Nordhessen, die seit über sechzig Jahren eine der wichtigsten internationalen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst im Hinblick auf die künstlerische und kulturelle Debatte beherbergt. Im Laufe der verschiedenen Ausgaben haben sich die Ausstellungsorte in der Stadt erweitert und umfassen bis heute Bahnhöfe, Museen, Galerien, Kunstakademien, Universitätsräume, Bibliotheken, Lagerhallen, Plätze und Parks.

Das Herzstück der Veranstaltung ist zweifellos der weitläufige Friedrichsplatz, der im späten 17. Jahrhundert erbaut wurde und in dieser Ausgabe eine gigantische Installation der argentinischen Künstlerin Martha Minujín beherbergt: The Parthenon of Books (1983/2017).

Marta Minujín, The Parthenon of Books
Marta Minujín, Der Parthenon der Bücher (1983-2017), documenta14 Kassel, Friedrichsplatz. Ph. Credit: Francesca Della Ventura

Der bedeutendste griechische Tempel, der heute in Kassel rekonstruiert wird, ist nicht nur visuell, sondern auch philosophisch und kulturell ein Verweis auf den anderen Ort der documenta, Athen, im Allgemeinen. Die Installation hatte der Künstler bereits 1983 auf dem Platz in Buenos Aires präsentiert: Die Säulen des Parthenon und seine anderen architektonischen Stützstrukturen bestanden aus 25.000 Büchern, die von der argentinischen Miliz verboten worden waren. Minujín wollte diese Installation auch für die documenta14 wiederholen: Der Tempel, ein Symbol demokratischer politischer Ideale, ruft deren Erinnerung angesichts von Diktaturen, die sie in Frage stellen, wieder wach. Für dieses Ereignis lud der Künstler die Besucher der d14 ein, Bücher zu spenden, die im Rest der Welt noch immer verboten sind, und mit ihnen den Tempel zu bauen.

Auf dem Friedrichsplatz befindet sich das historische Gebäude des Fridericianums, der Geburtsstätte der documenta. In Verbindung mit Athen und dem angrenzenden Parthenon wird hier zum ersten Mal außerhalb der griechischen Grenzen die Sammlung des EMST, des nationalen Museums für zeitgenössische Kunst der griechischen Hauptstadt, gezeigt. Der Titel der Ausstellung lautet ANTIDORON, was wörtlich übersetzt “die Rückgabe eines Geschenks” (oder einer Leihgabe) bedeutet und sich nicht nur auf die Rückgabe einer finanziellen Leihgabe bezieht, sondern auch - und vor allem - auf eine kulturelle und sprachliche. Aus den 180 Werken der 82 Künstler, die über die vier Stockwerke des Gebäudes verteilt sind, gehen die existenziellen, kulturellen und kollektiven Gedächtnisthemen, die das Hauptprojekt der Kuratorin - und Direktorin von EMST - Katerina Koskina sind, deutlich hervor. Während man sich glücklich schätzen kann, eine Kunstsammlung nutzen zu können, die zum ersten Mal außerhalb der Landesgrenzen ausgestellt wird, gibt es auch Zweifel an der Auswahl (und ihrer Dekontextualisierung in einer unklaren Ausstellungsroute) der 180 Werke aus einer Sammlung, die ursprünglich fast 2000 Werke umfasste.

Im Gegensatz dazu ist die Neue Galerie in der Schönen Aussicht sicherlich die beste Ausstellung dieser Ausgabe der documenta14 in Kassel. Das 1877 anlässlich des deutschen Triumphs im Deutsch-Französischen Krieg errichtete Gebäude beherbergt die hessische und Kasseler Kunstsammlung vom 19. bis zum 21. Anlässlich der documenta14 wurden alle zur Verfügung stehenden Ausstellungsflächen genutzt, was das Gesamtkonzept des Museums für einige Monate revolutionierte. Das Ergebnis ist insgesamt lobenswert und erfolgreich: Fragen der nationalen Identität und Zugehörigkeit sowie der Kulturpolitik stehen im Mittelpunkt des Dialogs zwischen den vertretenen Künstlern und entwickeln sich zu umfassenderen und komplexeren Themen, wie denen des europäischen Kolonialismus und der künstlerischen Erfahrung unter den Bedingungen von Krieg und diktatorischer Kontrolle und Zensur.

Im Erdgeschoss stellt der Ausstellungsweg die Auseinandersetzung mit allen Formen der Unterdrückung in den Mittelpunkt der Überlegungen, seien es politische, sexuelle, kulturelle, soziale oder körperliche Behinderungen, wobei die Freiheit des Individuums im Mittelpunkt steht. Die Ausstellung umfasst die Installationen des 2013 verstorbenen kubanischen Malers und Bildhauers Antonio Vidal, der vor allem für seinen entschlossenen und hartnäckigen Widerstand gegen alle Formen der Diktatur bekannt ist, sowie die Videoinstallationen und Fotografien des Duos Annie Sprinkle und Beth Stephens, die sich seit Ende der 1980er Jahre mit feministischen Fragen, Queer-Kultur und Erotik sowie mit der Darstellung von Pornografie, insbesondere im Hinblick auf die Rechte der Frauen darin, beschäftigen. Mit den außergewöhnlichen Arbeiten von Lorenza Böttner gehen wir dazu über, über die Kategorie der körperlichen Behinderung und die Sphäre der eigenen Sexualität nachzudenken. Trotz der Amputation ihrer Arme war Ernst Lorenz Böttner, der sich später Lorenza nannte, eine Tänzerin und Künstlerin, die mit Hilfe ihres Mundes und ihrer Füße malte und ihr Leben in eine kontinuierliche Performance-Kunstaktion verwandelte. Die restaurierte Installation"Das Rudel" (1969) von Joseph Beuys - seit 1976 nur dreimal ausgestellt (New York, London und Düsseldorf) - beherrscht den zentralen Raum im Erdgeschoss: Einerseits ist sie als Hommage an Beuys selbst gedacht, der unbestrittener Protagonist mehrerer documenta-Ausgaben war; andererseits ist sie ein Werk, das repräsentativ dafür ist, wie der Künstler selbst Chaos und Dynamik als wesentlich für die Veränderung der zeitgenössischen Gesellschaft ansah.

Antonio Vidal, Multiple sculptures, paintings, and works on paper
Antonio Vidal, Multiple sculptures, paintings, and works on paper (2017), documenta14 Kassel, Neue Galerie. Ph Credit: Francesca Della Ventura


Lorenza Böttner, Disegni su carta, fotografie, materiali d’archivio
Lorenza Böttner, Zeichnungen auf Papier, Fotografien, Archivmaterial (1975-94), documenta14 Kassel, Neue Galerie. Ph. Bildnachweis: Francesca Della Ventura


Lorenza Böttner, Autoritratto
Lorenza Böttner, Selbstporträt, documenta14 Kassel, Neue Galerie. Ph. Bildnachweis: Francesca Della Ventura


Joseph Beuys, Das Radel
Joseph Beuys, Das Radel (1969), documenta14 Kassel, Neue Galerie. Ph. Bildnachweis: Francesca Della Ventura

Im ersten Stock ist das Hauptthema der europäische Kolonialismus und Kulturimperialismus. Maria Eichhorns Installation"Unrechtmäßig aus jüdischem Eigentum erworbene Bücher" (2017) knüpft mit einer Reihe von Gemälden und Ansichten aus der Neuzeit von griechischen und deutschen Künstlern, die den Parthenon zum Thema haben, an die griechische Sammlung des Fridericianums - und damit an das übergreifende Thema dieser documenta14 - an. Den klassizistischen Marmorskulpturen - den Länderfiguren - im Erdgeschoss werden anschließend Darstellungen buddhistischer oder afrikanischer Idole gegenübergestellt. Fotografien und Gemälde, die die Missstände des europäischen Kolonialismus im späten 19. Jahrhundert darstellen, füllen die letzten Ausstellungsräume und erreichen ihren erzählerischen Höhepunkt in den Installationen der senegalesischen Künstlerin Pélagie Gbaguidi. Durch die Zeichnungen afrikanischer Kinder vermittelt Gbaguidi ihre Botschaft der Hoffnung -"Wir sind alle Menschen" -, die in mehreren Sprachen auch auf den Bannern des Gebäudes über dem Friedrichsplatz zu lesen ist.

Maria Eichhorn, Unrechtmäßig aus jüdischem Eigentum erworbene Bücher
Maria Eichhorn, Unrechtmäßig aus jüdischem Eigentum erworbene Bücher (Bonn 2017), documenta14 Kassel. Ph Credit: Francesca Della Ventura


Pélagie Gbaguidi, The Missing Link. Dicolonisation Education by Mrs Smiling Stone
Pélagie Gbaguidi, The Missing Link. Dicolonisation Education by Mrs Smiling Stone (2017), documenta14 Kassel, Neue Galerie. Ph. Credit: Francesca Della Ventura


We are (all) the people
Wir sind (alle) das Volk, Friedrichsplatz, documenta14 Kassel, Neue Galerie. Ph. Bildnachweis: Francesca Della Ventura

In dem riesigen und entspannenden Park"Karlsaue", nicht weit vom Fridericianum und der Documenta-Halle entfernt, kann man eine Reihe von Projekten und Installationen beobachten, wie zum Beispiel die des Kollektivs Ciudad Abierta. Die 1965 gegründete Gemeinschaft ist sowohl ein pädagogisches Experiment als auch eine architektonische Werkstatt, die von Dichtern und Künstlern mit dem Ziel gegründet wurde, eine utopische Gemeinschaft in einer idealen Stadt zu schaffen, in der Leben, Arbeit und Studium die Eckpfeiler sind. Im Jahr 1965 unternahm Ciudad Abierta die erste Reise durch Südamerika, um ihre Gedanken zu verbreiten. Für die documenta14 wurde das Ausstellungsprojekt"Amereida Phalene Latin South América" in derKarlsaueunter Beteiligung chilenischer, italienischer und deutscher Universitäten realisiert, um den Besuchern einen Ort der Begegnung und des offenen Dialogs mit anderen Kulturen zu bieten.

Ciudad Abierta, Amereida Phalene Latin South América
Ciudad Abierta, Amereida Phalene Latin South América (2017), Karlsaue, documenta14 Kassel, Neue Galerie. Ph. Credit: Francesca Della Ventura


Ciudad Abierta, Amereida Phalene Latin South América
Ciudad Abierta, Amereida Phalene Latin South Am érica (2017), Karlsaue, documenta14 Kassel, Neue Galerie. Ph. Credit: Francesca Della Ventura

Im Nordosten der Stadt Kassel befindet sich die Neue Galerie (Neue Hauptpost), ein 1975 neu erbautes Gebäude, das als Hauptsitz der zentralen Post und des Postverteilzentrums eröffnet wurde. Die Wahl dieses Ortes ist nicht zufällig: Für diejenigen, die den gesamten documenta14-Rundgang besucht haben, erscheint er als natürlicher Landepunkt am Ende dieser Reise in die Welt der zeitgenössischen Kunst.

Die Suche nach und die Definition der eigenen Identität stehen im Mittelpunkt des Werks der norwegischen Künstlerin Máret Ánne Sara, während das Thema der demokratischen Revolution innerhalb von Kulturen, die von diktatorischen Unterdrückungsregimen geprägt sind, die Arbeit von Künstlern wie Arin Rungjang leitet, zum Beispiel mit seinem Denkmal für die Demokratie"246247596248914102516 ... Und dann gab es keine mehr", das in Zusammenarbeit mit Bangkok und der Universität von Athen realisiert wurde.

An dieser Stelle erscheint die Wahl, den Dokumentarfilm derGesellschaft der Freunde von Halit" hier zu zeigen, äußerst interessant und bedeutsam. Die Videodokumentation erzählt von den rassistisch motivierten Terroranschlägen in Kassel im Jahr 2011, die von Rechtsextremisten des NSU (Nationalsozialistischer Untergrunds) verübt wurden. Die Überfälle führten zum Tod von rund einem Dutzend türkischstämmiger Jungen und wurden erst nach einer Volksdemonstration mit mehr als 4.000 Menschen in der Kasseler Innenstadt von deutschen Institutionen als Terroranschläge anerkannt.

In der gigantischen Videoinstallation"Atlas fractured" (2007) des in London lebenden Künstlers Theo Eshetu werden Tausende von menschlichen Gesichtern - aus den Welten der Geschichte und der Gegenwart - fragmentiert und in einer visuellen Eskalation wieder zusammengefügt, die den Betrachter zur mentalen Rekonstruktion eines einzigen Gesichts und einer einzigen Rasse, der menschlichen Rasse, führt.

Theo Eshetu, Atlas Fractured
Theo Eshetu, Atlas Fractured (2017), documenta14 Kassel, Neue Neue Galerie. Ph. Credit: Francesca Della Ventura

Als abschließendes Vermächtnis dieser documenta14 können wir die gleiche Botschaft des in London lebenden Künstlers aufgreifen: Es gibt keine Rassen, keine Verschiedenheiten in der globalen Welt, sondern nur einen Atlas, und zu dessen friedlicher Erhaltung sind alle Menschen aufgerufen, unter Wahrung der kulturellen und ontologischen Freiheit jedes Einzelnen.


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