Zeichnungen, visuelle Essays, Selbstporträts: das sind die Themen, die den Band Francesco Gennari beleben. Drawings, Visual Essay, Self-portraits, der soeben bei Skira editore erschienen ist (192 Seiten, € 40,00, ISBN 9788857243801) und dem Schaffen des in den Marken lebenden Künstlers Francesco Gennari (Pesaro, 1973) gewidmet ist: Es handelt sich um eine Art “angereicherten” Katalog, der anlässlich der Ausstellung Francesco Gennari. Sta arrivando il temporale, die vom 26. Oktober 2019 bis zum 6. Januar 2020 im GAMeC in Bergamo stattfindet und von Lorenzo Giusti kuratiert wird. Gennari, der zwischen Mailand und Pesaro lebt und arbeitet, ist Autodidakt und hat bereits in renommierten Museen ausgestellt: im Kunstverein in Frankfurt, in der Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea in Rom, im Kunstmuseum in Winterthur, im Museo Marino Marini in Florenz, im Museum of Contemporary Art in Chicago und im Palazzo Grassi in Venedig. Seine Kunst verbindet Erfahrungen, die an Metaphysik und Minimalismus erinnern, und gibt persönlichen Geisteszuständen Gestalt und Wahrnehmung, die in Skulpturen und Zeichnungen zum Ausdruck kommen, die zu Darstellungen von mentalen Landschaften und Fotografien von sich selbst werden.
“In Francesco Gennari gibt es viele Ichs”, schreibt Giusti, “die zusammen eine sich verändernde und zeitlose Landschaft bilden, die von Figuren bevölkert wird, denen man eine Form geben kann. Verschiedene Identitäten, die nicht immer friedlich koexistieren. Viele ähneln einander und unterscheiden sich nur durch kleine Nuancen; andere sind sichtbar verschieden und widersprechen sich. Sie sind verschiedene Elemente eines vielgestaltigen und instabilen Szenarios, das nur in seinem eigenen Ganzen kohärent ist”. Ein starkes Interesse an derSelbstdarstellung, eines der Leitmotive des Buches, lässt sich also in seinen Werken feststellen. Werke, in denen das Subjekt fast immer die “erste Person Singular” ist und die zum Ausdruck eines Wunsches nach Wissen werden. In diesem Sinne sind auch die “Selbstporträts” zu lesen, die scheinbar Themen anderer Natur darstellen: Auch in ihnen ist die Präsenz des Künstlers zu finden, “nicht nur in einem körperlichen, physischen Sinn, sondern auch und vor allem in einem emotionalen Sinn, der die Essenz einer Wahrnehmung, einer Erinnerung, einer Empfindung oder einer Atmosphäre wiederherstellt”, schreibt Giusti.
Gennaris Werke sind eher das Ergebnis einer Art Reise in sein Inneres als eine Ansammlung von Wissen. Diese Selbsterkenntnis bestimmt auch dieÄsthetik seines Werks. “Meine Ästhetik”, so der Künstler, “hat keine festen Regeln und pendelt harmonisch, vieldeutig und widersprüchlich zwischen verschiedenen plastischen Ansätzen. Ich bin frei, das zu tun, was ich in Bezug auf meine Emotionalität will”. Dies ist jedoch keine Verweigerung der Regeln, sondern der Wunsch, mit neuen Sprachen und neuen Ausdrucksformen zu experimentieren, je nach dem Gemütszustand, in dem man sich gerade befindet. Der Minimalismus selbst, die erklärte Matrix zahlreicher Werke“, schreibt Giusti, ”ist eine Sprache unter anderen, die ihren Wert in der Beziehung zu anderen Dimensionen erhält, zu anderen ästhetischen und kulturellen Referenzen, die sie zu verleugnen scheinen: die Renaissance, der Barock, die Metaphysik, aber auch jene besondere organische Faszination für natürliche Formen, die den Künstler die Schönheit einer Orangenschale, einer Schnecke mit ihrem spiralförmigen Gehäuse oder einer verdampfenden Flüssigkeit erfassen lässt.
Gennaris Werk mag schwer verständlich erscheinen, aber es spiegelt den Geist des Künstlers wider und lässt daher, wie Mouna Mekouar betont, “oft Raum für das Obskure oder das Unerklärliche”. Sie bezieht sich nicht nur auf “sensible Erfahrungen, sondern bietet eine manchmal traumhafte, wenn nicht metaphysische Lesart der Welt. Für Gennari ist die Welt ein mehrdeutiger Ort, offen für Zweifel und mit einer Bedeutung, die noch entschlüsselt werden muss”. Und so werden die Zeichnungen zu einer Art Landkarte dieser unentdeckten Welt, zu einem Weg, sie zu erforschen und kennen zu lernen. Aber es gibt nicht nur Zeichnungen: In Gennaris Praxis sind die Materialien von großer Bedeutung, ob es sich nun um traditionelle Materialien wie die der Bildhauerei handelt oder um ungewöhnliche, wie jene, die im allgemeinen Gebrauch sind, organische oder industrielle. Sie alle werden zum Ausdruck eines präzisen psychologischen Zustands, der sich in Bezug auf verschiedene Momente des Tages, mehr oder weniger wiederkehrende Ereignisse oder Handlungen verändert.
In dem Buch (besonders gut aufbereitet, mit einem kostbaren dunkelgrünen Samtumschlag) helfen drei Essays, die künstlerische Persönlichkeit von Francesco Gennari nachzuzeichnen: Io sono Francesco Gennari von Lorenzo Giusti (der Titel bezieht sich auf ein Werk des Künstlers aus dem Jahr 1996), Quando io non sono io von Mouna Mekouar, You travel all alone? Schweig jetzt, erkläre nichts von Petter Snare. Die Essays sind zweisprachig, auf Englisch mit italienischer Übersetzung.
Bild: Francesco Gennari, Selbstporträt als Säule des Himmelsgewölbes (2020)
Francesco Gennari: die Kunst der Selbstdarstellung im physischen und emotionalen Sinne |
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