Vom 4. bis 31. Oktober 2024 findet in der Fabbrica del Vapore in Mailand die erste große Retrospektive von Jean-Marie Barotte (1954-2021) statt. Sie wird im Spazio Messina im Erdgeschoss gezeigt, kuratiert von Chiara Gatti und Marco Bazzini, unter der künstlerischen Leitung von Maria Cristina Madau, und gefördert von der Stadt Mailand - Kultur und dem Fonds Barotte Madau, in Zusammenarbeit mit dem Verein T.Art, und produziert von dem Fonds Barotte Madau und der Fabbrica del Vapore.
Jean-Marie Barotte, 1954 als Sohn eines französischen Vaters und einer italienischen Mutter geboren, sammelte mehrere Erfahrungen in Mailänder Kulturkreisen und arbeitete insbesondere mit dem Ensemble Teatro AlKaest zusammen. Anschließend wandte er sich dem Forschungstheater zu und machte unter der Leitung des berühmten Regisseurs und Malers Tadeusz Kantor erste Erfahrungen als Schauspieler. Gegen Ende der 1980er Jahre, nach Jahren des Experimentierens an der Seite des Regisseurs, verspürte Barotte das Bedürfnis, eine eigene künstlerische Sprache zu entwickeln. So begann er, seine ersten Zeichnungen auf Tourneen in Hotelzimmern auf der ganzen Welt anzufertigen und damit eine künstlerische Reise zu beginnen, die ihn dazu brachte, seine Gedanken durch die Malerei auszudrücken.
Die Ausdruckswelt von Jean-Marie Barotte ist geprägt von einer inneren Reise, inspiriert von Literatur und Philosophie. Seine Werke knüpfen an das literarische Werk von Edmond Jabès, die Poesie von Paul Celan, den spirituellen Weg von San Juan de la Cruz und die Philosophie von Jacques Derrida an, was zu einer durchgehenden philosophisch-bilderischen Erzählung führt. Barotte denkt sowohl formal als auch konzeptionell tiefgründig nach und entwickelt eine Vision, die von der Dunkelheit zum Licht führt, wie in der Serie, die von der Noche oscura del alma von San Juan de la Cruz inspiriert ist. Seine samtigen Schwarztöne lassen einen fernen Lichtschimmer auftauchen, der einen alternativen Weg zur Dunkelheit andeutet und den ständigen Dialog der Existenz mit dem fragilen Horizont der Endlichkeit darstellt.
Barottes Werke sind Schwellen, die Visionen von neuen Welten eröffnen, die der Künstler dem Betrachter offenbart und ihn zur Teilnahme einlädt.
Der Aufbau der Ausstellung verwandelt die Räume der Fabbrica del Vapore zum ersten Mal in ein Labyrinth von Zimmern, wie Klausurstudios oder kleine Wunderkammern, die miteinander verbunden sind, um die Linie der Zeit, den Fluss der Gedanken und die Abgrenzung zwischen verschiedenen Umgebungen und Welten zu evozieren, die dennoch miteinander kommunizieren. Die Ausstellung zeichnet die künstlerische Entwicklung von Jean-Marie Barotte von 1987, dem Jahr, in dem er seine bildnerische Reise mit Au commencement était le signe während seiner internationalen Theatertourneen begann, bis zu Tout se tient en équilibre précaire nach, das im Dezember 2020, einen Monat vor seinem Tod, entstand.
Der Ausstellungsparcours hat die Form einer Initiationsreise, die aus neun thematischen Räumen besteht: The Room of the Theatre, Au commencement était le signe und The Secret Garden, Méditations érotiques, La noche oscura, Voyage de l’âme, NEROCENERE, Cosmographies, die Installation Ultima Suite und Tout se tient en équilibre précaire.
Barottes Arbeitsmethode basiert auf der Subtraktion: Er eliminiert alles Überflüssige und Subjektive, um sich dem Wesen des Untersuchungsgegenstandes zu nähern. Die tiefe Bedeutung seines Schweigens und seiner Abwesenheit ist als eine lange Meditation zu verstehen, die sich in seinen Recherchen, ungreifbaren Materialien, Formen, Zeichen und alchemistischen Schwärzen manifestiert, aus denen Licht und Farbe hervorgehen. Die Malerei von Barotte drückt sich wie ein Gedicht aus, inmitten ständiger philosophischer Bezüge. Im Laufe seiner unablässigen Erforschung der Bildmedien und der Sprache hat er durch eine persönliche Technik seinen eigenen schwarzen Rauch geschaffen, indem er rituell die Asche, “die Überreste des Feuers”, absetzte. Barotte benutzte poetische und philosophische Schriften als bildnerischen Zünder, indem er dem Bild das anvertraute, was das Feuer zurückgelassen hatte.
“Das ideale Erbe der Klassiker veranlasste Barotte dazu, über die Sprache der zeitgenössischen Malerei selbst nachzudenken”, betont Kuratorin Chiara Gatti, “als Ergebnis einer Neuinterpretation der Vergangenheit und ihrer Interpretation in einer zeitgenössischen Tonart. Zeichen, Ton, Schleier, Schwarz und Licht sind in der Tat Teil eines Lexikons, das seine Ursprünge in der Lehre der Autoren des 17. Das karawaggeske Modell, die Pracht des spanischen Siglo de Oro oder die unauslöschliche Identität der niederländischen Kultur, von Gerrit van Honthorst bis Rembrandt van Rijn, haben Barottes Studium und seine Berufung zu einer Poetik der Dunkelheit beflügelt. Seine umfassende literarische Ausbildung, die Texte von Edmond Jabes oder Jacques Derrida, um die herum er eine intime, in Gesten und Farben übersetzte Erzählung schmiedete, schöpfte auch aus visuellen Quellen, die im Erbe der großen flämischen Maler verwurzelt sind, in jenem akuten Sinn für das Heilige, das sich mit dem Profanen in den Ölgemälden einer Epoche vermischt, die sich den ewigen und gigantischen Themen der Vanitas und des Memento mori widmet. Die Analyse des noch unveröffentlichten Werks von Jean-Marie Barotte wird somit unerforschte Aspekte seiner Verbindung mit einer ikonografischen Tradition aufdecken, die das Europa des 17. Jahrhunderts durchquerte, und seine Malerei heute als Ergebnis einer tiefgreifenden Assimilation dieser Prämissen sehen, die sich jedoch mit dem informellen Vokabular des 20. Jahrhunderts und vor allem mit jener philosophischen Seite des Pariser Epizentrums vermischt, die auf die Studien von Georges Bataille zurückgeht”.
“Das kleine Format, das Jean-Marie Barotte verwendet, ist der Wunsch, die minimale Geste auf die Leinwand zu übertragen, die eher geflüstert als durch die Aktion des Malers nachgezeichnet wird”, fügt Marco Bazzini hinzu. “Es ist eine Annäherung an die Stille, die das Feld des Sehens aufreißt, um den Blick über die Unmittelbarkeit unserer Realität hinaus zu aktualisieren. Sie bringt uns zurück in einen Raum der Achtsamkeit, der eine Hinwendung zum Anderen bedeutet, auch wenn der Andere die winzige Fläche ist, die die Farben trägt”.
Die Ausstellung wird von einem monografischen Katalog begleitet, der von Silvana Editoriale herausgegeben wird und kritische Texte von Marco Bazzini, Chiara Gatti, Sara Chiappori und Federico Crimi enthält.
Für Informationen: https://www.fabbricadelvapore.org/
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag von 12 bis 20 Uhr; Donnerstag von 12 bis 22 Uhr; Samstag und Sonntag von 10 bis 20 Uhr.
Bild: Parade ohne Krokodil, Regie: Luigi Arpini, mit Jean Marie Barotte, Marzia Loriga, Alessandra Magliani, Moni Ovadia, Giovanni Battista Storti. Teatro Alkaest mit CRT Centro di Ricerca per il Teatro, Mailand, 1. Juni 1984
In der Fabbrica del Vapore findet die erste große Retrospektive über Jean-Marie Barotte statt |
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